Historisches Wörterbuch der Biologie, Rezension
Naturwissenschaftliche Rundschau 65 (1) (2012), S. 46-48
Besprechung von Franz M. Wuketits
Das vorliegende Werk ist einzigartig. Es ist das erste umfassende historische Wörterbuch, das die Geschichte der biologischen Konzepte und Theorien ausgehend von der Wortgeschichte darstellt. Höchst bemerkenswert ist auch der Umstand, dass es sich dabei nicht – wie man vermuten möchte – um ein Sammelwerk mit Beiträgen zahlreicher Verfasser handelt, sondern um das Werk eines einzelnen Autors! Die Idee dazu kam ihm, wie er im Vorwort erwähnt, am 26. März 2001 auf dem Fahrrad. Zehn Jahre später trägt diese Idee auf weit über 2 000 Seiten reichlich, überreichlich Früchte. Dem imposanten Opus in einer knappen Rezension gerecht zu werden, ist kaum möglich. Ich beschränke mich daher auf stichwortartige Bemerkungen, die den interessierten Leser auf dieses Werk aufmerksam machen sollen.
„Das Wörterbuch kann“, wie Toepfer im Vorwort seinen Gebrauch erläutert, „sowohl als wissenschaftshistorisches Handbuch als auch als begriffsgeschichtliches Nachschlagewerk verwendet werden.“ Es enthält 112 Hauptartikel – von „Analogie“ bis „Zweckmäßigkeit“ – und 1 760 Nebeneinträge, die zu Beginn jedes Hauptartikels in einem Kasten zusammengefasst werden, wobei jeweils das Jahr der Erstverwendung des Begriffes und der Autor der Begriffsprägung angeführt sind. Den Vorspann des Werkes bilden eine über 30 Seiten umfassende Einleitung sowie ein Verzeichnis der Hauptartikel, ein Wort-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis. In der Einleitung erörtert Toepfer unter anderem die Bedeutung historischer Wörterbücher im Allgemeinen, die Besonderheiten biologischer Begriffe und die Tragweite einer Begriffsgeschichte der Biologie. Mit Recht stellt er fest, dass „erst die Einbettung der Begriffe in eine Theoriendynamik … die Rede von einer Begriffsgeschichte überhaupt plausibel erscheinen lassen [kann]“.
So ist denn auch dieses Werk kein „Wörterbuch“ im Sinne einer bloßen Aneinanderreihung von Wörtern und deren Erklärungen, sondern eine Ideen- und Theoriengeschichte der Biologie, die sich zwar an Begriffen orientiert, diese aber in einen breiten historischen und theoretischen Kontext stellt. Die Hauptartikel widmen sich daher jenen Begriffen, die nicht nur als Wörter, sondern als umfassende Konzepte in die Geschichte der Biologie eingegangen sind, zum Teil Kontroversen ausgelöst haben und heute nach wie vor eine zentrale Rolle spielen. Beispiele sind, um nur einige ganz wenige herauszugreifen, „Art“, „Entwicklung“, „Evolution“, „Funktion“, „Homologie“, „Organismus“, „Phylogenese“, „Selbstorganisation“, „Selektion“ und „Verhalten“. Viele der Begriffe sind, gerade in ihrer konzeptionellen Dimension, von übergreifender Bedeutung, so etwa „Bewusstsein“, „Individuum“, „Kommunikation“, „Kultur“, „Mensch“, „Sozialverhalten“, „Spiel“ und „Tod“. Damit weist das Werk über das engere Gebiet der Biologie hinaus und gewinnt vor allem auch für die Theoriengeschichte der Medizin an Bedeutung.
Mit seinen 100 (Vorspann) plus 2 404 Seiten, zweispaltig gesetzt, ist dieses Werk eine geradezu unerschöpfliche Fundgrube. Hervorzuheben sind dabei auch die unzähligen Hinweise auf Literatur in den Anmerkungen zu jedem Haupteintrag, die in vielen Fällen in die Hunderte gehen. So sind beispielsweise die Artikel „Art“ und „Leben“ mit 663 bzw. 502 Anmerkungen und Literaturhinweisen versehen. Damit sich der Leser aber nicht im Dickicht der Literatur verliert, führt Toepfer am Ende jedes Hauptartikels (nach den Anmerkungen) einige wenige einschlägige Bücher und/oder Aufsätze an, die das jeweilige Thema umfassend und vertiefend beleuchten. Trotz der gewaltigen Materialfülle, die er zu bewältigen hatte, ist es dem Autor gelungen, ein hervorragend strukturiertes und didaktisch bestens aufgearbeitetes Werk vorzulegen. Als sehr hilfreich erweisen sich dabei die unzähligen Abbildungen und Tabellen, aber natürlich auch die sehr klare systematische Gliederung jedes Artikels. Beginnt man einmal in einem der drei Bände zu blättern, dann möchte man ihn eigentlich nicht mehr aus der Hand geben. Was man auch nachschlägt, man findet sofort detaillierte und interessante Information, und man will weiterlesen. Verschiedene Hauptartikel führen in die Geschichte und Theorie einzelner biologischer Disziplinen ein. So kann man z. B. die Einträge „Systematik“ und „Taxonomie“ (mit zusammen 50 Seiten) als eine inhaltsreiche Einführung in ein „klassisches“ Gebiet der Biologie lesen. Der Beitrag „Bioethik“ wiederum gibt (auf 25 Seiten) einen fundierten Überblick über eine relativ neue fächerübergreifende Disziplin, ihre Begrifflichkeit und Geschichte. „Biogeografie“, „Morphologie“ und „Ökologie“ sind weitere Beispiele für biologische Fächer, deren historischer und konzeptioneller Entwicklung der Autor relativ breiten Raum widmet. Und natürlich fehlt nicht der Eintrag „Biologie“ (mit über 40 Seiten und 322 Anmerkungen mit Literaturhinweisen).
Toepfer sieht seine drei Bände als „Nachschlagewerk zur Wissenschaftsgeschichte und -theorie der Biologie“, damit aber auch als einen „Beitrag zur Entwicklung einer Philologie der Naturwissenschaften – einer angesichts der öffentlichen Bedeutung der Naturwissenschaften zunehmend wichtigen, aber noch kaum existenten Disziplin“. Nunmehr existiert sie aber – zumindest für den Bereich der Biologie und ihrer Grenz- und Nachbargebiete. Angesichts der gewaltigen Aufgabe wird man den Autor verstehen, dass er – wie er im Vorwort durchblicken lässt – manches Mal bereut hat, sie in Angriff genommen zu haben. Gut, dass er nicht aufgegeben hat! Denn was er vorlegt, ist ein Werk, das in Zukunft jedem, der sich mit der Geschichte und Theorie der Biologie sowie mit theoretischer Biologie und ihren philosophischen Grundlagen und Implikationen beschäftigt, als unentbehrlicher Wegweiser dienen wird. Selbstverständlich kann ein so detailreiches Opus wie das vorliegende noch der einen oder anderen Korrektur oder Ergänzung bedürfen. Der Autor bittet daher um entsprechende Hinweise an hwb@toepfer-online.de.
Dem Verlag – der unter www.metzlerverlag.de/webcode ergänzende Unterlagen zu dem Werk anbietet – ist Respekt dafür zu zollen, dass er dieses Buchprojekt realisiert hat. Der Preis ist dem Umfang und der gediegenen Ausstattung des Werkes angemessen. Allerdings werden sich Studierende und angehende Forscher auf den in Rede stehenden Gebieten die drei Bände kaum anschaffen können. Sie werden sie allenfalls in einschlägigen Bibliotheken zur Hand nehmen (müssen!). Es wäre daher daran zu denken, mittelfristig eine preiswertere Studienausgabe des Historischen Wörterbuchs herauszubringen. In einer Zeit, die grundsätzlich (also nicht nur in den Naturwissenschaften) durch einen Verlust der historischen Kontinuität geprägt ist und in der mancher glaubt, das Rad neu erfinden zu müssen, ist das vorliegende Werk nicht zuletzt jüngeren Forschern ans Herz zu legen. Denn es macht, jedenfalls für den Bereich der Biologie, überdeutlich, dass der rasante „Fortschritt“ in dieser Disziplin deren historisch gewachsenen Begriffe und Konzepte nicht aufhebt, sondern durch sie erst ermöglicht wird: „Kein Fortschritt in der empirischen Biologie wird fortschaffen können, dass die Phänomene der Ernährung, des Wachstums, der Wahrnehmung und der Fortpflanzung das definieren, was ein Lebewesen ist.“
Natürlich gilt dasselbe auch für Phänomene wie Entwicklung, Evolution oder Verhalten. Die Rückbesinnung auf die Entstehung und Herkunft biologischer Begriffe und Konzepte ist daher kein verzichtbarer Luxus, sondern – im Interesse eines besseren und tieferen Verständnisses der heute wegweisenden Wissenschaft der Biologie – notwendig. Toepfer hat dazu einen veritablen Beitrag geleistet, der für Jahrzehnte bestimmend bleiben wird.
Ich hoffe, mit dieser knappen Besprechung die überragende Bedeutung seines Werkes herausgestellt zu haben.
Prof. Dr. Franz M. Wuketits, Wien